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Eine Tirade (von 1991)

Den folgenden Text habe ich 1991 für die Zeitschrift "aktiv Radfahren" geschrieben. Das ist lange her. Ohne kurze Erläuterung von Zeitumständen könnte er jüngeren Lesern fremd erscheinen.

In Deutschland regierte damals ein Bundeskohl, von dem Journalisten zu behaupten pflegten, daß er schlechter Englisch spreche als sie. Außerdem übersetzten zu dieser Zeit alle etwas seriöseren Presseerzeugnisse "ultimate" noch nicht mit "ultimativ".
Heute ist dies hingegen der "Spiegel"-Standard. (Oder muß es in der "Spiegel"-Schreibweise von 2010 "Standart" heißen?)

Von ultimativen Antworten und anderen Blähungen – eine Tirade

Wie Marketingfachkräfte mit der Hypersprache downhillmäßig herumbiken

Man stelle sich vor, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland übersetzte öffentlich das englische Wort "ultimate" mit "ultimativ". In Kommentarspalten ergösse sich Hohn und Spott, die Stammtisch-Bewohner hätten etwas zu lachen. Unterläuft einem Marktschreier der Fahrradindustrie der gleiche Fauxpas, findet er sich alsbald auch in den Spalten der Lohnschreiber und wird an "Biker"-Stammtischen gehorsam nachgeplappert. Wer mag da noch behaupten, diese Nation werde nicht würdig repräsentiert?

Solchem Publikum kann man auch eine neue Kettenschaltung als "High-Tech"-Produkt verkaufen. "High-Tech" kommt in Werbetexten deshalb so häufig vor, weil High-Tech-Computer solche Texte im High-Tech-Zeitalter mit Hilfe eines High-Tech-Zufallsgenerators allein verfassen und "High-Tech" mit hoher Priorität programmiert wurde. Der Begriff "Technologie" beschreibt Fertigungstechnik und Produktionsverfahren, ein "High-Tech-Fahrrad" ist also eines, an das moderne Fertigungsverfahren angeschraubt wurden. Sicher eine sperrige Angelegenheit, und bei meinem Rad würde ich mir dies verbitten.

"Hyperglide" wird eine spezielle Zahnform der Ritzel genannt, was nicht jeder gleich versteht. Man kommt der Sache mit der Entdeckung näher, daß im Englischen das vorangestellte "hyper-" auch im Sinne von "übermäßig" verwendet wird. Wenn von übermäßigem Gleiten die Rede ist, soll offensichtlich das Durchrutschen einer Kette beschrieben werden. Und siehe da, die Anwender berichten auch, daß sich bei Verwendung der "Hyperglide"-Ritzel genau dieser Zustand bisweilen schon nach wenigen tausend Kilometern einstelle. Das Versprechen der Werbung wird also eingelöst, niemand kann sich beschweren.

Noch schwieriger ist die Recherche, will man herausfinden, aus welcher Legierung eigentlich das "Flugzeugaluminium" besteht, von dessen Einsatz die Werbefachkräfte mehrerer Firmen stolz berichten. Ich will nicht bezweifeln, daß Boeing das gleiche Material für tragende Teile verwendet. Ein Einsatzgebiet könnte beispielsweise die Bordtoilette sein.

Wenn der Kunde beim "Flugzeugaluminium" in andächtiges Staunen verfällt, kann man ihm auch "einen Freewheel" verkaufen (Sachs) oder Felgen, auf deren Seiten Keramik "projiziert" wurde (Mavic), oder auch eine Schaltung mit "Lateral Operating System, welches die querlaufende Bewegung steuern" soll (Campagnolo).

Shimano hingegen ist Marktführer und gibt sich mit solchen Minderleistungen nicht zufrieden. Deshalb wurde beim neuen XTR-Zahnkranz "die Kraftübertragung ... wesentlich erhöht, da die größeren Zahnkränze an Punkten befestigt werden, die sich näher an ihrem äußeren Umkreis befinden."
Die Schulphysik kennt keine Erklärung für diesen Geniestreich. Es ist daher zu vermuten, daß die Lösung nicht von den Ingenieuren in Osaka, sondern mitten in einem Kornkreis entdeckt wurde.

Es ist ein zweifelhaftes Unterfangen, in einer deutschen Zeitung über die Vergangenheit eines japanischen Unternehmens zu schreiben, solange die Wehrwirtschaftsführer, SS-Stabsoffiziere, Zwangsarbeiterbaracken der hiesigen Konkurrenz friedlich in den Archiven schlummern. Shimano möchte aber auch bei der neu eingeführten Generation von Fahrrad-Schalthebeln nicht von der Bezeichnung "Rapidfire Shifter" ablassen. Wer in dieser Weise auf die Kriegsspielzeug-Assoziationen großer und kleiner Kinder setzt, sollte daran erinnert werden, daß er sich ganz im Einklang mit seiner Firmentradition befindet: Groß wurde Shimano in den dreißiger Jahren nicht durch die Qualität seiner Fahrradteile, sondern durch die seiner Granatzünder für das Menschenschlachten in der Mandschurei.

Über den sinnvollsten Schalthebel wird gestritten, seit ein anderes Thema fortfiel: Nach Jahren intensiver Forschung, die zu verschiedenen ovalen Kettenblättern mit dem Namen "Biopace" führte, wurde letztlich die ideale Form für das Fahrrad-Kettenblatt entdeckt. Die Neuentwicklung nannte man "Superglide round", und die perfekten Eigenschaften ergeben sich dadurch, daß bei diesem Oval beide Achsen einer Ellipse gleich lang gehalten werden, zweifellos eine gute Idee.

Damit die Ideen unter's Volk kommen, gibt es Fahrrad-Fachzeitschriften. Durch sie kann man unter anderem feststellen, ob es im Dummdeutschen "ich bin gebikt", "ich habe gebikt" oder "ich bin am biken gewesen" heißen muß. Außerdem kann man lernen, warum ein Fahrrad anders um die Kurve fährt als ein zweites. Es gibt zur Erklärung solcher Phänomene geheimnisvolle Maße, die sich unter anderem "Nachlauf" und "Gabelvorbiegung" nennen. Folgt man den Berichten der Fachleute, sind ihre Beobachtungen jeweils darauf zurückzuführen. Da aber ungefähr ein Viertel der Schreiber vorher Nachlauf und Vorbiegung durcheinander zu werfen pflegt wie Kraut und Ruben, kann das alles wohl nicht ganz so wichtig sein.

Im Piemontesischen, erzählt Umberto Eco in einem seiner Romane, gebe es den schönen Ausdruck: "Ma gavte la nata!" Dies bedeute, erklärt er mittels seines Übersetzers, "zieh Dir mal den Pfropfen raus!" und beschreibe den Verdacht, da blähe sich jemand nur deshalb so heftig, weil er einen Stöpsel im Hintern trage. Anschaulich ist, daß dieser Jemand blitzschnell zu normaler Lebensgröße schrumpft, sobald er tut wie geheißen – unter unangenehmen Begleitumständen.
Sollte Ihnen ein Fahrradteile-Hersteller neuerdings erklären wollen, er habe die Oberfläche seiner neuen Produkte nicht andersfarbig eloxiert, sondern "mit einem High-Tech-Glanz versehen", ist dies zweifellos die angemessene Antwort: "Ma gavte la nata."